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Das neue Gehirn

Was ist der nächste evolutionäre Schritt des menschlichen Gehirns? Gibt es überhaupt einen weiteren Schritt oder hat das Hirn so etwas wie einen endgültigen Reifungszustand erreicht, den Gipfel der Evolution? Ist es möglich, dass sich auf diesem Planeten ein Gehirn mit einer komplett anderen Aktivität entwickelt, die das althergebrachte Homo Sapiens-Gehirn transzendiert?

Diese Frage ist bedeutsam, sogar entscheidend, aus zumindest einem Grund: Die Erkenntnis setzt sich durch, dass die Menschheit in nicht allzu ferner Zukunft Formen künstlicher Intelligenz mit einer gewissen Ausprägung von Empfindungsvermögen entwickeln kann. Manche Spekulationen gehen davon aus, dass solch eine künstliche Intelligenz so programmiert wäre, dass sie zu emotionalen Reaktionen in der Lage ist.

Nun, wenn Roboter eines Tage in der Lage sind, selbst zu denken, in den richtigen Momenten aus Büchern und Filmen zu zitieren, eine hochgeistige Konversation zu führen und sogar Wünsche und Sehnsüchte auszudrücken, wie unterscheiden sie sich dann noch vom menschlichen Gehirn?

Aber gibt es ein „menschliches“ Gehirn überhaupt, im Sinne eines willentlich und unabhängig wählenden Systems? Oder sind nicht auch wir nichts weiter als eine Programmierung, das Ergebnis von sozialer, kultureller und genetischer Konditionierung, Sprache und Erinnerung? Gibt es irgendein Element in unserem Gehirn, das wirklich unprogrammiert ist?

Heutzutage weiß die Neurowissenschaften um die Fähigkeit des Gehirns, sich außerordentlich flexibel zu verändern. Damit einher geht eine große Hoffnung. In erster Linie bedeutet es, dass ein untrennbarer Teil des Wesens von Selbst-Bewusstheit in seiner Fähigkeit begründet liegt, sich des Programms bewusst zu werden, in dem es gefangen ist – und genau dies zu durchbrechen.

Das erleuchtete Gehirn

Die größte Unterstützung, die der Formung eines neuen Gehirns zuteil werden kann, entstammt der höheren Funktionsebene des Geistes. Diese Ebene ist im Wesentlichen völlig unkonditioniert, da sie nie von den Zwängen der Zeit geformt wurde. Sie ist nicht das Ergebnis der Vergangenheit, Geschichte oder kultureller Einflüsse. Es handelt sich um völlige Wachheit, fleckenlose Bewusstheit, und nicht um das Produkt der Evolution. Eher um ein Auge der Beobachtung, das über allen evolutionären Strömungen existiert und jedweden möglichen Schritt der Evolution übersteigt.

Wie würde ein Gehirn, das von dieser Funktionsweise der höheren Ebene durchtränkt ist, aussehen?
Vor allem anderen wäre dieses Gehirn, in seinem Kern, unkonditioniert. Da es seinem Wesen nach nicht Teil etwas Beweglichen wäre, sondern komplett jenseits davon, würde es sich inmitten einer leuchtenden Gegenwärtigkeit befinden. Es wäre ahistorisch und nicht-evolutionär. Mit anderen Worten, es wäre grundlegend frei.
Wenn wir versuchen, uns ein solches Hirn auszumalen, dessen Aktivität nicht mehr Prozessen der Ansammlung und des Werdens unterliegt, ist dies schwer zu fassen. Schließlich ist die kognitive Aktivität selbst, die solch eine Möglichkeit in Betracht zieht, gedankenbasiert und damit nicht in der Lage, solch eine ganz und gar andere Art zeitloser Kognition zu erfassen.

Wie das Gehirn altert

Denken, wie es ist – ein endloser Fluss von Erinnerungen, Vergangenheit und Zukunft; Bedauern, Sehnen und Hoffnung; Anhaftung und Lust; Zitieren von Gewesenem und Vergleichen – ist eine Imitation oder Replikation des Zeitstroms. Denken erschafft Zeit, genau wie Zeit das Denken erschafft.
Zeit als Werden ist eine fortlaufende Ansammlung, ein „Stein auf Stein“-Prozess des Erbauens. Ab einem gewissen Punkt heftet sich das Gehirn an einen bestimmten Groove und fängt an, von dort aus vorgezeichnete und vertraute Pfade zu entwickeln. So kann es passieren, dass das Gehirn nur sich selbst wiederholt. Es wird hypnotisch. Nicht nur, dass die Perspektive sich nicht mehr erneuert, es versucht auch, sich selbst immer und immer wieder zu bestätigen. Aus diesem Grund weist es alles automatisch zurück, was seine eigene Validität zu unterminieren scheint.

So kristallisiert das Gehirn gewissermaßen. Es wird zu einem jüdischen oder hinduistischen Gehirn; zu dem Gehirn eines Mystikers oder Wissenschaftlers. Dies ist ein Gehirn, das eine eigene Tradition entwickelt, selbst wenn es keiner äußeren Tradition anzuhängen oder einer solchen gegenüber gleichgültig zu sein vorgibt. Es handelt sich um eine Denktradition – die eindimensionale Perspektive, anhand derer alles untersucht und ausgewertet wird.
Allmählich fängt es an, den eigenen Erwartungen entsprechend auf Dinge zu reagieren. Es hat eine vorgefertigte Antwort für jede Frage, die es ohne Zögern herausschießt. Wenn es schließlich zur Konsolidierung kommt, verlagert es sich darauf, nur noch rückwärts zu schauen. Jede neue Informationen wird mit dem verglichen, woran es sich erinnert, mit dem, was dem Feld des „Bekannten“ anheimgefallen ist. Wenn sich das Gehirn nur noch mit einigen gut ausgetretenen mentalen Wegen zufrieden gibt, denen es so sehr vertraut, dass sie nicht mehr genauer untersucht oder hinterfragt werden, beginnt das Hirn zu altern und zu verfallen (kein unvermeidlicher Prozess physischen Alterns).

Die Kunst des Lauschens

Das neue Gehirn gibt das auf Zeit und Erinnerungen basierende Denken auf zugunsten von etwas, das man als „Lauschen“ bezeichnen könnte. Lauschen verwandelt sich dann in die zentrale kognitive Aktivität. Der Schwerpunkt des Gehirns verlagert sich hin zu diesem Modus kompletter Wachheit, der nicht auf Informationen, Reaktionen oder Konzepten beruht und somit auch nicht alles, was ihm begegnet, entsprechend einiger fixierter Perspektiven untersucht. Im Gegenteil: Es lässt die gewohnte Aktivität, all das Ansammeln und das gesamte Prinzip, Intelligenz bestehe aus fortlaufender Akkumulation, hinter sich.

Die Konzeption von Intelligenz verändert sich in solch einem Gehirn radikal. Nun wird das Lauschen – eine luzide, neue und freie Qualität des Geistes – die bedeutsamste Form von „Intelligenz“. Der Akt der Negation – ein waches Zurückweisen kognitiver Reaktionen, automatischer Interpretationen und Perspektiven, das von Denkern wie Jiddu Krishnamurti als Hauptcharakteristikum eines „neuen Gehirns“ bezeichnet wurde – versetzt das Gehirn in die Lage eines frischen Neustarts.

Die Freiheit, Fragen zu stellen

Mit all den unzähligen Büchern, Theorien, mit viel Sorgfalt entwickelten Konzepten und allem, was große Denker der Menschheitsgeschichte ersonnen haben, stellen wir uns noch immer dieselben Fragen, da nichts von alledem bislang vollständig und wahrhaftig beantwortet werden konnte. Wer sind wir? Warum sind wir hier? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist wahre Freiheit? Was ist der Tod?

Diesen Fragen muss mit einem unkonditionierten und neuen Gehirn begegnet werden, da ihnen eine bemerkenswerte Erweckungsqualität innewohnt, die uns, mit voller Aufmerksamkeit gestellt, zum Erforschen antreibt, hinein ins unendliche Mysterium, das unser Universum ist. Dies ist die Kraft der großen Fragestellungen des Lebens, wenn sie einem lauschenden Gehirn gestellt werden – jedes Mal aufs Neue eine lebensverändernde Bewegung hin zum Mysterium zu entzünden.

Um diese Bewegung zu unterstützen, habe ich Techniken für das neue Gehirn entwickelt wie die „Frage“ und „Transformationsgespräche“.

Das lauschende Gehirn hat seiner Natur nach nur sich selbst als Autorität, da es über die wahre Freiheit zu fragen verfügt. Im Gegensatz zum lauschenden Gehirn ist das so genannte individuelle Gehirn, auf das wir momentan so stolz sind, überhaupt nicht individuell und unabhängig: Es ist ein Gehirn, das von der Gesellschaft und unseren Beziehungen mit ihr geformt wurde.

Die Möglichkeit der Emergenz eines ungeformten Gehirns, das zu voller Wachheit jenseits aller vertrauten mentalen Pfade im Stande ist, ist evolutionär hochspannend. Es würde das Gedächtnis als führende Kraft unserer mentalen Aktivität zu Fall bringen und alle sicheren und vorhersehbaren Pfade des Denkens würden aus den Fugen geraten. Diese Art von Verschiebung bedeutet nicht weniger als eine tiefe Verwandlung des Gehirns, wie wir es kennen: ein brandneues Augenpaar, das ohne Vergangenheit auf alles blickt und dem somit vielleicht zum ersten Mal die Möglichkeit einer wirklichen Zukunft zuteil wird. Solch ein Gehirn könnte zeigen, wie der Modus des Lauschens die Quelle einer neuen kreativen Aktivität ist – einschließlich einer anderen Wahrnehmung der Probleme im Leben und ihrer Lösungen.

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